Angeblich saß Freud hinter seinen Patienten, die auf einer Couch lagen, weil er Menschen so schlecht in die Augen schauen konnte. Ob hieran etwas Wahres ist, oder ob es sich um eine erfundene Anekdote handelt - nobody is perfect, auch kein Freud, kein Therapeut dieser Welt.
Die übliche Frage bezüglich meiner Person - mehr oder minder direkt, früher oder später vorgebracht, geht immer in dieselbe Richtung:
Wie halten Sie es nur aus, sich all diese - meine - Sorgen anzuhören?
Mehr oder minder stark schwingen dabei im Hintergrund Themen über meine Person und meine Beziehung zum Patienten/Klienten:
Interessiert der sich überhaupt für mich als Mensch, oder ist er nur am Honorar interessiert? Würde er mit mir ein Bier trinken gehen? Betreibt er wissenschaftliche Studien? Bin ich sein Forschungsobjekt? Warum macht der das? Was sind seine wahren Motive? Hatte er selber Probleme? Kam er damit hin? Leidet er am Helfersyndrom? Weidet er sich sogar heimlich an meinen Problemen? Braucht er Menschen, denen es noch schlechter geht, um sich selber zu stabilisieren? Sollen andere für ihn stellvertretend Probleme lösen? Braucht er meine Bewunderung? Wie würde er auf Kritik, wie auf meine Zuneigung reagieren?
Vielleicht lassen sich diese berechtigten Fragen am besten beantworten, wenn ich einige Geschichen meines Lebens mit den Themen Psyche, Psychologie, Psychotherapie mal erzähle:
Die gedankliche Auseinandersetzung mit meiner eigenen Innenwelt begann in dem Alter, in dem man die Fähigkeit entwickelt, abstrakt zu denken, also so ungefähr mit 11 Jahren. Da waren zunächst nur kurze Wahrnehmungen, die sofort wieder weggedrängt wurden: Ängste im sozialen Bereich, Ängste Menschen anzusprechen, diese Zittrigkeit, wenn ich mich beobachtet fühlte und vor allem dieses beklemmende generelle Gefühl innerer Unsicherheit, weniger zu sein als die anderen. Hierzu passte gut, dass ich stets der Zweitkleinste in der Klasse war. Das war damals allen Ernstes für mich der Grund, warum ich diese Komplexe haben musste. Ach wäre ich doch nur etwas größer geraten. Dann hätte ich auch diese peinliche Schüchternheit mit den Mädchen nicht.
Nach außen war ich der ehrgeizige Schüler, erfolgreich auf dem Gymnasium, jemand der gerne seine Meinung sagte und gerne kritisierte, liebend gern vor großen Versammlungen. Das Ganze hielt, bis ich 16 Jahre alt war, dann kam der Einbruch. Ich hatte plötzlich erhebliche Spannungskopfschmerzen, die Schule fiel mir auf einmal wesentlich schwerer, ich war schnell erschöpft, meine Redegewandtheit war wie weggeblasen. Die Fassade war nur noch notdürftig zu halten. Mit 18 merkte ich, dass ich plötzlich erhebliche Ängste hatte, in den Keller zu gehen. Als ein Lehrer, auf den ich viel hielt, im Abiturjahr meinte, heute wäre es ja Mode, Psychologie zu studieren, um die eigenen Probleme zu bewältigen, fühlte ich mich ertappt und beschloss, stattdessen Lehrer zu werden, was ich auch durchzog.
Der absolute Tiefpunkt und ein Schlüsselerlebnis war, als ich mit 23 Jahren in einer Vorlesung mit etwa 200 Kommilitonen saß und merkte, nichts geht mehr. Ich war wie unter einer Käseglocke, völlig unfähig zu irgendeiner Kommunikation, wie in Watte gepackt. Davor war ich schon sukzessive den Mitstudenten immer mehr aus dem Wege gegangen. Wenn ein bekanntes Gesicht mir entgegen kam, bog ich nach Möglichkeit vorher ab, um die Begegnung zu vermeiden. Im Nachhinein würde ich mich damals als mittelgradig depressiv diagnostizieren.
Als ich aus dieser Vorlesung gerade so rauskam, ohne in Tränen auszubrechen und auf der großen Freitreppe stand, schoss es mir in den Kopf, entweder bringst du dich jetzt um, oder du gehst zur studentischen Beratungsstelle.
Es war damals wohl die beste Entscheidung meines Lebens, erstmal zur Beratungsstelle zu gehen. Mir ist heute klar. ich brauchte diesen enormen Leidensdruck, um mich zu überwinden, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mir zurecht legte, ich käme, weil ich unkonzentriert sei und bei Rot über die Ampel fuhr. Ich hätte daher Angst, mein Studium nicht zu schaffen. Mehr an Offenbarung ging nicht, das mit der totalen inneren Verzweiflung behielt ich für mich. Ich werde immer dankbar dafür sein, dass man mich nicht gleich als noch nicht therapiereif genug wieder weg schickte, sondern in eine verhaltenstherapeutische Gruppe steckte.
Die Verhaltenstherapie kam damals Mitte der 70er Jahre gerade über den großen Teich, bis dahin gab es nur Analyse. Wir sollten solche Übungen machen, wie jemandem auf der Straße nach dem Weg fragen und dabei erst mal weniger, dann mehr nachfragen. Ich merkte, bei mir kommt etwas in Bewegung, ich übte mit zunehmendem Spaß im Alltag. Der Gipfel war wohl, dass ich eine durch mich verkratzte Schallplatte bei Quelle unter Hinzurufung des Abteilungsleiters wieder zu Geld machte. Es machte mir zum Teil Spaß, über das Ziel hinauszuschießen. Sollte sich jemand an mich negativ erinnern - sorry Quelle und andere Opfer - die Feinregulierung kam dann erst allmählich. Es war plötzlich sogar möglich, in eine große WG zu ziehen - welch eine Entwicklung und was für ein neues Leben, auch wenn die innere Verunsicherung noch nicht weg war.
Nach der Verhaltenstherapie kam eine analytische Gruppe. Wir waren stets angehalten, uns "auseinanderzusetzen". Was das sollte, war mir nicht ganz klar, und es machte mir Angst. Das erste halbe Jahr sagte ich erst mal nichts, die Therapeutin schien es nicht zu stören, es gab ja andere Gruppenteilnehmer, die gerne im Mittelpunkt standen. "Wer möchte heute arbeiten? - nein - ich bitte nicht, Kopf runter und ja nicht die Therapeutin angucken - Schweigen aushalten - Gott sei Dank - Peter sagt was."
Was dann passierte war erst mal reichlich komisch und verwirrend. Ich wurde aus heiterem Himmel von Phantasien geplagt, die Therapeutin umbringen zu wollen. Auch abends noch durch die Gegend zu laufen, brachte keine Erleichterung. Im Gegenteil - es wurde immer schlimmer, ich malte mir aus, wie ich sie würgte und wie ich sie dabei beschimpfen würde, was für ein autoritäres Arschloch sie sei, und was sie sich eigentlich herausnehmen würde und dass ich das fortan nicht mehr akzeptieren würde. Ich war froh war, dass die nächste Sitzung anstand, in der es geradezu aus mir herausplatzte. Um es abzukürzen - die Therapeutin entpuppte sich in der Übertragung als mein Vater. Unser Hirn scheint da sehr flexibel zu sein. Unglaublich - die Aggressionen gegen einen älteren grauhaarigen Vater werden unbewusst auf eine blonde, noch junge Therapeutin übertragen, nur weil sie der Chef ist. Oh Gott - wie sollte ich jemals mit einem Chef klar kommen - bei dem Vater - "Solang du deine Füße ...".
Der Knoten war geplatzt, ich begann mich mit Hinz und Kunz auseinanderzusetzen und hatte ab und an Freude daran, über das Ziel hinauszuschießen, Leute auch mal bewußt zu schockieren. Sorry auch diesbezüglich an alle, die sich negativ an mich erinnern. Für mich war damals aggressiv besser als depressiv, stets das rechte Maß zu finden war dann noch ein längerer Prozess.
Es folgten viele tolle Impulse durch Gestalttherapie und Psychodrama, die damals von Amerika kommend, allmählich immer bekannter wurde und mir nochmals eine neue innere Welt eröffnete, auch ein besseres Verständnis, wie Therapie funktioniert. Ich war dann in meiner Entwicklung soweit, dass ich mich motivierte, mein Lehrerstudium jetzt zügig zu beenden, um als Belohnung dann Psychologie zu studieren. Das klappte. Einen Tag nach dem Abschluss des Lehrerstudiums saß ich in der Philosophischen Fakultät und studierte tatsächlich als Belohnung Psychologie. Dieses Studium war eigentlich nur gut, die Umgebung von Psychos tat mir gut, der Stoff viel mir leicht. Mir war klar, der Umweg war o.k., wahrscheinlich war er notwendig. Nach dem Abi war ich nicht so weit, ich hätte auch vieles ohne den Erfahrungshintergrund nicht wirklich verstanden. Ich war damals 28. Im Psycho-Studium waren älteren Studenten nicht ungewöhnlich. Dank des Lehrerberufes konnte ich relativ leicht genug Geld verdienen, um mein Psychologiestudium ohne Druck abzuschließen.
Mit Beginn der 80er Jahre kamen die Körpertherapien, Bioenergetik, Rebirthing und wie sie alle hießen - mit viel Atmung, Bewegung, Tanz und Emotionen. Wieder tat sich eine neue Welt auf - unglaublich, was passierte, wenn der Körper gedehnt, der Unterkiefer geöffnet und der Atem forciert wurde. In den Gruppen ging es oftmals zu wie im Irrenhaus - schreien, heulen, lachen - oftmals alles und alle gleichzeitig. Tatsächlich, das Trauma steckt in jeder Zelle des Körpers und es läßt sich lösen - eigentlich unglaublich, auch schwer mit Worten zu transportieren. Man muß es selber erleben. Meine Zittrigkeit löste sich in Luft auf, und ich verlor meine Steifigkeit.
Ich spürte, dass etwas zum Abschluss gekommen war. Ich brauchte keine Therapie mehr. Das normale Leben und die Tätigkeit als Therapeut erfüllten mich. Was ich gelernt hatte wurde mir klar, als ich Ende 40 nochmals eine heftige Trennung mit sehr unschönen Begleiterscheinungen zu bewältigen hatte. Was für ein Unterschied - zur Krisensituation mit 23 Jahren. Der Schmerz und die Aggressionen waren sehr stark, weil ich diese nicht mehr unterdrücken musste. Ich hatte inzwischen genug Sicherheit im Umgang mit starken Emotionen. Damit verlief auch der Lösungs- und Bewältigungsprozeß relativ schnell. Das meiste konnte ich ohne äußere Hilfe selber bewältigen. Soweit ich zeitweise Hilfe durch Freunde oder professionelle Helfer brauchte, konnte ich diese suchen und akzeptieren, kein blockierender falscher Stolz mehr - wunderbar, endlich genug Selbstbewusstsein, niemand ist mehr oder weniger als ich - und dieses grundlegende Wissen, egal was passiert, ich kann bei Verlusterlebnissen, Schmerz, Aggressionen und anderem Negativem, das mir begegnen kann und das ich nicht immer vermeiden kann, letztendlich auch etwas Gutes daraus machen - daran kann mich keiner hindern, das ist meine wahre menschliche Freiheit.
Resümée: Letztendlich verdanke ich der Psychotherapie mein Leben. Bis heute ist mir nicht klar, und ich kenne keine Therorie, die erklärt, warum manche Menschen in der Verzweiflung die Kraft finden, Hilfe zu suchen und anzunehmen, den Weg finden, sich zu entwickeln, während andere Menschen den Mut der Verzweiflung selbst in der allergrößten Not nicht finden. Sogar in der Lebensgefahr gelingt es ihnen nicht, den falschen Stolz, die Ängste und die Scham, Hilfe zu suchen und anzunehmen zu überwinden. Unglaublicherweise ziehen manche Menschen es tatsächlich vor, lieber schleichend oder gar abrupt in den Tod gehen. Es tut mir jedesmal weh, Menschen zu sehen, die in ihrer Selbstwahrnehmung völlig blind sind, sich aufgegeben haben, manchmal möchte man sie schütteln, wenn es helfen würde.
Es ist als Therapeut geradezu beglückend miterleben zu dürfen, wenn sich bei einigen Menschen der innere Vorhang im Laufe der Therapie - manchmal schlagartig - öffnet, während andere sich diesbezüglich kaum oder nur wenig bewegen. Trotzdem können auch diese Menschen von Psychotherapie profitieren. Wie tief man in die Thematik eindringt und wie weit man in welchem Tempo geht, bestimmt man selber. Der Therapeut ist präsent, gibt Rückmeldung, ermutigt, informiert, leitet an. Er ist ein Trainer, ein Coach für seelische Belange - manchmal Lebensretter.